Was bedeutet es, „in der Mitte zu bleiben“?
Wir hören es oft: „Bleib in deiner Mitte!“ Doch was genau heißt das eigentlich? Und wo finden wir diese Mitte in uns? Eine hilfreiche Brücke zwischen Theorie und gelebter Praxis bietet uns die Yogaphilosophie – und der Gedanke, unsere körperliche Haltung von der Matte ins Leben zu übertragen.
Auf der Yogamatte lernen wir, Haltungen einzunehmen, die sowohl stabil als auch leicht sind. Das Konzept von Sthira Sukham Asanam stammt aus den Yoga Sutras des Patanjali (2.46) und bedeutet: „Die Haltung (Asana) sollte stabil (sthira) und angenehm (sukham) sein.“ Dieses Konzept lässt sich wunderbar auf unsere geistige Haltung anwenden: Auch hier geht es um die Balance zwischen Festigkeit und Leichtigkeit – Stabilität in unseren Überzeugungen, aber ohne Sturheit; Leichtigkeit im Umgang mit uns selbst und anderen, ohne uns vom Kurs abbringen zu lassen.
Stabil und leicht: Die Balance für Körper und Geist
In der Yogapraxis erleben wir sthira (Stabilität) und sukham (Leichtigkeit) als Grundlage für jede Haltung. Übertragen auf den Alltag bedeutet das:
Sthira – Stabilität: Stabilität ist mehr als körperliche Standhaftigkeit – sie umfasst auch unsere mentale und emotionale Stärke. Sie bedeutet, mit beiden Füßen fest im Leben zu stehen, selbst wenn es um uns herum wackelt. Im Yoga zeigt sich Stabilität in der Fähigkeit, eine Haltung so einzunehmen, dass sie uns Halt gibt, ohne dabei zu verkrampfen.
Im Leben spiegelt sich Sthira in unserer Fähigkeit wider, klare Grenzen zu setzen, unsere Werte zu leben und auch in schwierigen Momenten bei uns zu bleiben. Doch Stabilität darf nicht starr werden. Wenn wir uns zu sehr an Überzeugungen klammern, riskieren wir Scheuklappen oder das Gefühl, allein die Wahrheit zu kennen. Wahre Stabilität gibt uns Halt, ohne uns einzuengen – sie lässt uns standhaft und gleichzeitig offen bleiben.
Frage zur Reflexion:
Wo in deinem Leben fühlst du dich stabil? Gibt es Bereiche, in denen du mehr Halt brauchst?
Wo bist du vielleicht zu festgefahren? Gibt es Überzeugungen, die dich nicht mehr unterstützen?
Sukham – Leichtigkeit
Leichtigkeit bedeutet, das Leben mit Flexibilität, Freude und Humor anzugehen. Im Yoga spüren wir Sukham, wenn wir uns in einer Haltung nicht verkrampfen, sondern fließen können. Im Alltag zeigt sie sich, wenn wir loslassen, uns weniger ernst nehmen und Raum für Kreativität und Lebensfreude schaffen.
Doch auch Leichtigkeit braucht Balance: Sie bedeutet nicht, sich wie ein Fähnchen im Wind ständig anzupassen und dabei die eigene Stabilität zu verlieren. Wahre Leichtigkeit entsteht, wenn wir flexibel bleiben, uns selbst mit Nachsicht begegnen und gleichzeitig unseren Werten treu bleiben.
Frage zur Reflexion:
Wo könntest du mehr Leichtigkeit in dein Leben bringen?
Gibt es etwas, das du gerade festhältst und loslassen könntest?
Wie kannst du mehr Humor und Nachsicht dir selbst gegenüber finden
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Innere Anmut (Grace): Die Haltung aus dem Herzen
Die Balance aus Stabilität und Leichtigkeit mündet in eine innere Haltung, die uns aufrecht durch den Alltag trägt: eine Haltung von Anmut, Würde und innerer Klarheit. Für mich entspringt diese Haltung aus dem Herzen – dem Ort, an dem sich Geben und Nehmen die Waage halten.
Ein Herz in Balance hilft uns, aus vollem Herzen zu handeln. Es erinnert uns daran, dass wir uns nicht immer mit aller Kraft verteidigen müssen und dass manche Situationen gar nicht so persönlich sind, wie sie sich anfühlen.
Frag dich: Wo in deinem Leben bist du vielleicht zu hart – mit dir selbst oder anderen? Und wo wünschst du dir mehr Sanftheit?
Praktische Impulse für mehr Balance im Alltag
Setze klare Grenzen: Stabilität bedeutet, „Nein“ zu sagen, wo es notwendig ist. Das schließt ein, unsere Werte zu kommunizieren und sie zu verteidigen – für uns selbst und unser Wohlbefinden.
Übung: Notiere dir drei Situationen, in denen du deine Grenzen deutlicher setzen möchtest. Wie kannst du das klar und liebevoll tun?
Übe Flexibilität: Leichtigkeit entsteht, wenn wir uns erlauben, Dinge loszulassen, die uns nicht länger dienen. Manchmal hilft es, eine neue Perspektive einzunehmen oder uns in Humor zu üben.
Übung: Nimm dir heute eine Situation vor, die dich stresst, und frage dich: „Wie würde das aussehen, wenn ich mit Leichtigkeit darauf reagiere?“
Pflege die innere Anmut: Halte inne und spüre in dein Herz. Wo fühlst du dich ausgeglichen zwischen Geben und Nehmen? Wo könntest du dich selbst (oder anderen) mit mehr Mitgefühl begegnen?
Übung: Erinnere dich täglich an einen Moment, in dem du Anmut und Würde gespürt hast – in dir oder bei jemand anderem. Wie kannst du diese Haltung in dein Leben einladen?
Schlussgedanke: Unsere Mitte zu finden, ist ein tägliches Üben - und unsere Mitte ist auch jeden Tag wo anders. Es geht nicht darum, perfekt zu sein, sondern um den bewussten Versuch, stabil und gleichzeitig leicht durch das Leben zu gehen. Frag dich:
Wo bist du zu festgefahren und könntest mehr Flexibilität zulassen?
Wo brauchst du mehr Stabilität und klare Grenzen?
Und wo kannst du mit ein bisschen Humor und Leichtigkeit das Leben umarmen?
„Die Balance aus Stabilität und Leichtigkeit beginnt in uns. Sie macht uns frei, anmutig und voller Herz zu leben.“
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